Als ich im Geiste wieder meine alte Fahrradstrecke zur Schule verfolgte, war mir das letzte Wegstück, das auf den Park mit dem angrenzenden Gymnasium zuführte, zuerst nicht mehr erinnerlich. Es wurde überlagert vom Anblick einer großräumigen Siedlung, die dort erst viele Jahre später errichtet wurde und die ich seit meiner ersten Rückkehr 1976 öfter vor Augen hatte. Erst als ich eines Tages an einen gewissen aggressiven Tic dachte, den ich just in den Jahren um 1975/76 hatte, nämlich gelegentlich in Gedanken wie ein Infanterist oder Stoßtruppführer auszurufen: „Sprung auf! In den Nahkampf!” (oder so ähnlich), sah ich zugleich dieses verschollene Wegstück plötzlich wieder deutlich strukturiert vor mir.
Beim Beschreiben des Wegstücks bemerkte ich sodann, dass sich hier eine weitere (auto-)aggressive Phantasie angesiedelt hatte, diesmal zu einem Lehrer: Wenn mir Lenz' Tragikomödie ‚Der Hofmeister’ und die satirisch kommentierte Selbstkastration dieses traurigen Helden, eines Hauslehrers, in den Sinn kommt, pflegt mir dasselbe Wegstück vorzuschweben.
Und eine dritte aggressive Assoziation konnte sich noch viel später diesem Wegstück zugesellen. Ungefähr um 1990 hatte ich es wieder vor Augen, als ich ein Fernsehspiel über Heinrich Himmlers Vater sah, den Direktor des humanistischen Wittelsbacher-Gymnasiums München, der einen seiner Schüler mit kaltem Sadismus fertigmachte.
P.S.: Es war dies der Fernsehfilm ‚Der Vater eines Mörders’ (1985) mit Hans Korte in der Titelrolle. Als Vorlage diente die gleichnamige 1980 posthum erschienene Erzählung von Alfred Andersch, der in dieser Unterrichtsstunde als Schüler zugegen war.
Für die Lokalisierung der Himmler-Assoziation und der anderen gewaltandrohenden Phantasiebilder gibt es für mich nur die eine plausible Erklärung: Ich habe mich auf meinem alten Fahrradweg endlich meinem Gymnasium genähert, der Stätte so vieler Enttäuschungen, Peinlichkeiten und – auch selbstverschuldeter – Leiden. Jetzt müsste ich nur noch in das letzte, kaum 100 Meter lange Wegstück am Saum des Parks einfahren, in den schmalen dunklen, von Baumkronen überdachten Aschenweg, der direkt auf das Gymnasium zuführt.
Ich fotografierte diesen Zugang schon Mitte der 1980er Jahre und notierte damals dazu, dass diese Wegstrecke in meiner Erinnerung für den Zeitraum der Sexta und Quinta stehe; und dass mir merkwürdigerweise bei diesem Anblick gar nicht beklommen zumute sei, obwohl es doch ein „Phantombild der Angst” sei. Immer noch ist dieser Anblick des Fotos von keinem Gefühl begleitet. Dabei steht er für mich weiterhin für Angst schlechthin, als enger dunkler Korridor, durch den hindurch ich mich ins Unvermeidliche zu begeben habe. Empfindungen hat man freilich bei einem solchen tagtäglichen Eintritt besser keine mehr.
Zu meiner Überraschung fällt mir erst jetzt ein, daß sich ja um diesen Zugang zum Park und Gymnasium längst schon einige Todesbilder angelagert haben, die dem Deutschunterricht des dort wohnenden Dr. Lennartz entstammen (vgl. S. 8): die Gräber des so kinderfreundlichen Herrn von Ribbeck und des Westgotenkönigs Alarich (als Pfadfinder war ich ein „Ostgote”), die Opferfahrt des John Maynard sowie die Morde an dem Heideknaben und dem Dichter Ibykus. Diese Phantasiebilder, die meine Opferrolle bezeichneten und daraus eine Art Totenkult machten, waren zweifellos die seelisch früheren und von einer solch magischen Gewalt, daß sie jene aggressiven Erwachsenenphantasien, die offenbar mit gewissen Lehrern abzurechnen begannen, in ihren Bann ziehen und in ihrer unmittelbaren Nähe ansiedeln konnten.
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