Vom Rektor vor der Klasse bloßgestellt
Im
Frühjahr 1955, wenige Wochen vor meinem Wechsel aufs Gymnasium,
gehen wir Schüler in Begleitung unseres Rektors vom Sportplatz
zurück zur Schule. Auf dem schmalen Weg hinter dem Rasenplatz, auf
dem immer nur zwei oder drei von uns nebeneinanderhergehen, höre ich
hinter mir, wie ein Mitschüler meines jüngeren Bruders
deklamiert:
„Lakritz,
Lakritz,
Die Frauen
haben 'nen Schlitz.
Die Männer
haben 'nen Pillemann,
Da spielen die Frauen gerne dran.”
Unerhört!
Hell empört laufe ich nach vorn zu einem Mitschüler oder auch
Schülergrüppchen und sage: „Weißt du/Wißt ihr, was der Ka. da
gerade erzählt hat?” Und ich wiederhole den Spruch.
Am
nächsten Morgen ruft mich der Rektor aus meiner Bank nach vorn. Ich
muß mich rechts neben ihn hinstellen und blicke auf meine
Klassenkameraden, während er fragt: „Wer
von euch hat gehört, daß der Fleig gestern diese
Sachen(?) erzählt hat?” Und sogleich, ohne eine Erklärung von mir
zu verlangen, ruft er aus der rechten Bankseite der Jungen einen
nach dem anderen auf. Ich weiß, daß er nach jenem Spruch fragt,
kann mir dazu aber keine weiteren Gedanken machen, so peinlich ist
mir die Situation, in der ich ja auch den Mädchen gegenüberstehe,
die zu meiner Linken dasitzen. Schon haben einige Mitschüler die
Frage des Rektors verneint, darunter ein Junge, der es mit
angehört hatte. Dann aber antwortet ganz hinten rechts jemand mit
„Ja”: Es ist mein Mitschüler Ulrich. Ich sehe ihn noch dort
stehen, eine große „dunkle” Gestalt, als ich schon einen
heftigen Schlag ins Gesicht erhalte.
Ich
weiß nicht mehr, wie es weiterging. Jedenfalls war ich so gelähmt,
dass ich nach meiner „Entlarvung” kein Wort der Rechtfertigung
fand und sicherlich auch nicht nach dem genaueren Hergang gefragt
wurde. Meine Eltern wurden sogleich davon in Kenntnis gesetzt, doch
ist mir entfallen, ob oder wie sie mich zusätzlich bestraften.
Wie mir mein jüngerer Bruder später erzählte, wäre auch er, der
nichts damit zu tun hatte, vor seiner Schulklasse dazu befragt
worden.
Wie in einen
bösen Traum gebannt, sehe ich mich von nun an vor den Mädchen, von
denen ich einige gut leiden mag, als den übelsten aller Schurken
dastehen. So beschämt bin ich, dass ich es kaum erwarten kann, bald
aufs Gymnasium zu kommen, weit weg von hier.
Als
ich mit ungefähr 15 Jahren zum ersten Mal wieder meinem ehemaligen
Klassenkameraden Helmut zusammentraf, fragte ich ihn bald, ob er sich
noch an jenen Zwischenfall erinnerte. Er bejahte es, ging aber
diskret darüber hinweg, so, als hätte es überhaupt nichts zu
bedeuten. Nicht von ungefähr wandte ich mich Anfang der 90er Jahre
zuerst an ihn, als ich mich für Schicksal und auch
Erinnerungspotential meiner ehemaligen Kameraden zu interessieren
begann.
Inzwischen
fiel ein neues Licht auf jenen Klassenkameraden, von dem ich mich
verraten fühlte: Wie ich um 1990 von einem ehemaligen Mitschüler
erfuhr, wäre Ulrich später ein bemerkenswert widerspenstiger
Schüler gewesen und hätte es gar fertiggebracht, sich einmal für
längere Zeit selber vom Schulbesuch zu befreien. Seitdem
ich dies weiß und
sein Verhalten nicht nur vom Standpunkt des Erwachsenen aus
relativieren kann (im Bewusstsein etwa, dass er in einer religiös
orthodoxen oder sektiererischen Familie aufwuchs), sondern indem ich
ihm erneut gleichsam auf kindlicher Augenhöhe begegnen und
altersgemäß frischen Respekt entgegenbringen
kann, ist er für mich immer weiter aus jenem Schatten des
Denunzianten getreten. Und wie ich ihn wieder als meinesgleichen
betrachte und nicht länger als eine „dunkle” Judasfigur, so
habe ich umgekehrt ein anderes, selbstkritischeres Gefühl für meine
eigene damalige Rolle – hätte ich doch bei einer Befragung durch
den Rektor den vorwitzigen Erzähler dieser anstößigen
Verschen wohl selber beim Namen genannt. Meine Verbitterung hat sich
auf diese Weise erheblich abgeschwächt. Für unseren
Rektor allerdings mag ich an kein billig versöhnliches Wort denken
und will ihm und seinesgleichen den dauernden Missbrauch ihrer Macht
über uns Kinder nicht nachsehen.
Mir ist inzwischen
eine wohl aus der 68-er Bewegung stammende und womöglich als
kindergartentauglich eingeschätzte Gedichtvariante zu Ohren
gekommen:
„Lakritze,
Lakritze, die Mädchen ham’ne Ritze.
Die Jungen ham’nen
Hampelmann, da ziehn die Mädchen gerne dran!”
- 6 -