Tagebuch
23.9.64:
„Egon
gibt mir den Aufsatz, der ihm zweifellos Kummer bereitet hat,
wieder zurück: ‚ausreichend’; sagt, er sei jederzeit
bereit, mit mir darüber zu reden (und ich erst!). Bin
immer noch aufgewühlt: etwa das Philosophiestudium
aufgeben? ... Wim akzeptiert meine Bitte, mit ihm um
19 Uhr über die Arbeit zu diskutieren ... zu ihm; anfänglich
versteht er den Aufsatz nicht; kann ihm auch nicht den
logischen Ablauf erklären; er geht zum
Essen, kommt zurück; nach und nach versteht er; macht mir
Mut, z.B. wolle er <auch> meine künftigen
Schriften verstehen; ist bereit, Egon den
Aufsatz zu erklären; sagt: Ich wäre froh, diesen
‚ausreichenden’ Aufsatz anstelle meines eigenen
‚guten’ geschrieben zu haben.”
3.10.:
„Lese
Ruth meinen Deutschaufsatz vor; ist offensichtlich
beeindruckt von meiner Manier, ein solches Thema anzugehen
und sagt: ‚An deiner Stelle würde ich mir die Arbeit
aufheben.’”
Gleichwohl
habe ich den Aufsatz, der vielleicht wieder zurückgefordert
wurde, nicht aufbewahrt und weiß so nicht einmal mehr das
Thema.
Der
andere Deutschaufsatz befaßte sich laut Tagebuch mit einem
„Textvergleich zwischen Hölderlin: ‚Der deutsche
Nationalcharakter’ und Kant: ‚Über
die Deutschen’”.
24.11.:
Im Philosophieunterricht spreche ich mich gegen die unkritische
Übernahme von Begriffen aus. „Egon stimmt mir zu, weist aber auf
die Gefahr hin, zu kritisch zu sein. ‚Eine Gefahr, die Sie in
Ihrem letzten Aufsatz vermieden haben ... Das ist
jetzt der richtige Weg.’ ‚Das
sehe ich aber etwas anders, denn ich halte den
vorletzten Aufsatz für weit besser.’ ‚Ich nicht; übrigens
müssen Sie ein Lob nicht nur deshalb abweisen, weil es von
anderen kommt.’ Ich
kann nicht umhin, zu lächeln.”
7.12.:
„Erhalten die Deutschaufsätze zurück: ‚ausreichend’.
‚Hätten Sie auch noch den Schlußteil anfangen können, wären
Sie mindestens auf ‚befriedigend’
gekommen’
usw. ... Kann mich
darüber nicht mehr aufregen, bin schon zu oft enttäuscht
worden. ... Wim liest den Aufsatz und bemerkt: ‚Deiner
hat einen eher wissenschaftlichen Charakter als meiner.’
(Feiner Kerl, ein
weiteres Mal habe ich ihm zu danken!) An dem, was er sagt, ist etwas:
Das ist nicht die normale Art zu schreiben, ich muß
erst alles begrifflich definieren und, ehe ich Beispiele
liefere, Unklarheiten und Vagheiten
beseitigen; was in der Tat wissenschaftlich ist, mir
aber nicht erlaubt, rechtzeitig fertigzuwerden.
Egon weist auch darauf hin: ‚Was Sie schreiben, ist
völlig überzeugend, doch müssen Sie zu einem Ende kommen.’”
*
An
dem schon zitierten SPIEGEL-Artikel vom Dezember 1964 erregte mich
laut Tagebuch mehr noch als die unglaubliche
Sitzenbleiber-Quote speziell am Sterkrader
Gymnasium die offenbar allgemein verbreitete willkürliche Benotung
von Deutschaufsätzen in der Oberstufe. Der
Tübinger Oberstudiendirektor Robert
Ulshöfer ließ nämlich damals „einen
‚leichter
zu beurteilenden’ Abituraufsatz
von 42 Oberstufen-Kollegen durchsehen.
Ergebnis: einmal die 1, sechsmal die 2, zwölfmal
die 3, siebenmal die 4, 14mal die 5, zweimal die 6”
(vgl.
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46176317.html).
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