Unser
südchinesischer Reisebegleiter erwähnt lediglich jene Schandtaten
der "rothaarigen Barbaren", wie man die Briten seit den
Opiumkriegen in China oft titulierte. Und geht
auf die heutige wirtschaftliche Lage Kantons über; nicht nur Sparten
wie Elektronik oder Dienstleistungen aller Art wären hier zu nennen,
sondern auch Produkte der Leichtindustrie
wie Schuhe, Fliesen oder Sportbekleidung. Die Hauptrolle freilich
spielt immer noch die seit 1957 zweimal jährlich
stattfindende "Guangzhou Fair", Chinas
größte Export- und Importmesse, die gut ein Viertel der
Exporte des Landes abwickelt. Da sie noch in diesen
Oktobertagen geöffnet ist, dürften
wir mit unserem Reisebus eigentlich nicht in die
Innenstadt einfahren, haben jedoch eine
Ausnahmegenehmigung als "Handelsdelegation"
erhalten.
Die wenigen Stunden
unseres Kantoner Aufenthalts nutzen wir, um sogleich den wohl
populärsten der chinesischen Ahnentempel aufzusuchen, den des
Familienclans der Chen. Treffender wird er auch als
"Studienhof der Chen-Sippe" benannt, denn die Anlage wurde
1890-94 wohl mit dem Hauptzweck errichtet, eine auf die kaiserlichen
Beamtenprüfungen vorbereitende
Studienakademie für Angehörige dieser
einflußreichen Sippe zu errichten. Sie war in 72 Kreisen der Provinz
Guangdong angesiedelt und entwickelte unter
anderem einen eigenen Tai-Chi-Kampfstil. Ihren
Stammbaum führte sie auf Shun zurück, den letzten der fünf
mythischen Urkaiser Chinas. Eine der neun Haupthallen der
Anlage diente als Versammlungsort des Clans und die
größte Halle, die neben den Ahnentafeln auch ein Bildnis
jenes Urkaisers zeigte, war der Ahnenverehrung
gewidmet. Die Ahnentafeln galten als Wohnstätten
der geistigen Hun-Seele des Verstorbenen; mittlerweile hat man sie
dort entfernt und den größten Teil der weitläufigen
Anlage um 1960 als Museum für das
Volkskunsthandwerk der Provinz Guangdong eingerichtet
- dies sicherlich als gezielte Antwort auf den elitären Anspruch
einer solchen Familiendynastie.
Gerühmt
wird der Ahnentempel vor allem wegen seiner handwerklich exzellenten
Stein- und Holzschnitzereien, Wandmalereien und vor allem der bunt
glasierten Tonfiguren auf den Dachfirsten.
Sie alle zeigen Szenen aus dem Familien- und Dorfleben sowie aus
bekannten Romanen und Theaterstücken; daneben finden sich
Einzelfiguren wie Flußgottheiten,
glückverheißende mythische Tiere,
Landschaftsszenerien und etlicher farbenfroher Nippes. Das Ganze ist
derart überladen, daß es fast schon wieder zum Augenschmaus
werden kann. Am erfreulichsten wird mir der
Anblick eines älteren Herrn, der hier mit seinem
vielleicht einjährigen Enkelsohn auf dem Arm die Hallen
durchwandelt, weißgekleidet der eine wie
der andere.
Die Kehrseite jenes
Sippenstolzes war übrigens das uralte, teuflisch effiziente und auch
deshalb weltweit verbreitete politische Instrument der Sippenhaftung.
In China war es spätestens seit der Qin-Dynastie so stark
ausgeprägt, daß bei schweren Vergehen wie einem Sakrileg die
Angehörigen von gleich drei Generationen der Familie geköpft und
die von bis zu zehn Verwandtschaftsgraden mit
Strafen belegt werden konnten. In abgemilderter Form wird die
Sippenhaftung bis heute gleichermaßen für Dissidenten
wie für Parteiangehörige praktiziert.
In jüngster Zeit hat man so Liu Xia, die Ehefrau des
inhaftierten Friedensnobelpreisträgers Liu Xiaobo ohne
Gerichtsverfahren unter bewachten Hausarrest
gestellt und verlor ein Politbüro-Kandidat nach dem grob
fahrlässig verschuldeten Autounfall seines
Sohnes sein Amt als Sicherheitschef des Politbüros.
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