Quelle: ‘Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums’ (Oberhausen 2005, S.26)
In
Englisch
unterrichtet uns in der Oberstufe Dr. Börgers, genannt
„Funkturm”
oder „Der Lange”. Den stämmigen Zwei-Meter-Mann
lerne ich schon in der Unterstufe oder zu Beginn der Mittelstufe
kennen, als ich, wohl von der Schülerbibliothek
her, um eine Flurecke biegend geradewegs auf ihn
zurenne und sogleich derart heftig „eine
gescheuert” bekomme, daß ich noch einige
Meter weit auf dem Flur entlangrutsche.
Dieser Hüne hatte ein großes pädagogisches
Handicap, hätte alles daran setzen
müssen, seine uns Kinder einschüchternde
körperliche Präsenz zu dämpfen und sich auch in
Gestus und Tonfall in besonderem Maße
zurücknehmen müssen.
Bei
der Erwähnung seines Spitznamens „Funkturm” zitierte mein
Klassenkamerad Willi 1995 spontan das mir wieder
erinnerliche Sprüchlein: „Wenn der zuschlägt,
ist Senderausfall!” Stammt es nicht von mir, als ich mich in der
Oberstufe noch an jene Begegnung
im Flur erinnert hatte? Und sagte ich nicht, leicht
doppelsinnig: „Wenn der hinhaut ... ”?
Wobei freilich genau genommen nicht der
ausfallender Sender, sondern der „Empfänger”
gemeint war. Im Hintergrund meiner verrutschten
Metaphorik stand mein Vater, der Funkamateur,
der mir laufend „eine funkte”.
Wie die
anderen Lehrer der Ober- oder späten Mittelstufe
teilt Herr Börgers zwar keine Schläge mehr aus, unterstreicht
aber seine übergewaltige physische
Präsenz durch einen strengen Ernst und besonders durch seine
Manier, sich mit auseinandergebreiteten
Armen auf die Bank vor dem zu Examinierenden aufzustützen.
Seine Gelassenheit wirkt bemüht
und widerruflich und wird, auch wenn er nie in Rage
gerät, immer wieder durchbrochen von
gereizt klingenden ironischen Bemerkungen.
Ruckartig entspannt gibt er sich gern nach
vorangegangenem Verhör und
gelegentlich gegen Ende der Stunde,
um uns, dem Kollektiv, endlich wieder einmal seine
Zufriedenheit aussprechen zu können.
In der
Sache ist er mit der beste Lehrer, den ich je hatte und bringt
mich vor allem in der Interpretation von
Texten weit voran. Während im Französischunterricht
fast nur Aspekte des Inhalts und Gehalts behandelt
werden und „Egon” Hebel uns in Deutsch außerdem noch die
weithin langweilenden metrischen Schemata
oder Reimformen nahezubringen sucht, macht
uns Herr Börgers auf
unscheinbarere Strukturelemente
und Kunstgriffe aufmerksam, auf
Symbolik, Mehrdeutigkeit, Erzählerstandpunkt,
Handlungsentwicklung oder Figurenpsychologie.
Und hinterläßt mir die Empfin-
- 50 -