Als ich im
Geiste wieder meine alte Fahrradstrecke zur Schule verfolgte, war mir
das letzte Wegstück, das auf den Park mit dem angrenzenden
Gymnasium zuführte, zuerst nicht mehr erinnerlich. Es
wurde überlagert vom Anblick einer großräumigen
Siedlung, die dort erst viele Jahre später errichtet
wurde und die ich seit meiner ersten Rückkehr 1976 öfter vor
Augen hatte. Erst als ich eines Tages an einen
gewissen aggressiven Tic dachte, den ich just in den Jahren um
1975/76 hatte, nämlich gelegentlich in Gedanken wie ein
Infanterist oder Stoßtruppführer auszurufen:
„Sprung auf! In den Nahkampf!” (oder so ähnlich), sah ich
zugleich dieses verschollene Wegstück
plötzlich wieder deutlich strukturiert vor mir.
Beim
Beschreiben des Wegstücks bemerkte ich sodann, daß sich hier eine
weitere (auto-)aggressive Phantasie
angesiedelt hatte: Wenn mir Lenz' Tragikomödie ‚Der
Hofmeister’ und die satirisch kommentierte
Selbstkastration dieses traurigen Helden, eines Hauslehrers,
in den Sinn kommt, pflegt mir dasselbe Wegstück vorzuschweben,
diesmal perspektivisch leicht versetzt, so wie ich es
bei der ersten ‚Hofmeister’-Lektüre (in der
Zeit um 1976 oder später?) unwillkürlich beigekommen war.
Und
eine dritte aggressive Assoziation konnte sich noch viel später
diesem Wegstück zugesellen. Ungefähr um 1990
hatte ich es wieder vor Augen, als ich ein Fernsehspiel
über Eichmanns Vater sah, einen Münchner Gymnasialdirektor,
der einen seiner Schüler mit kaltem Sadismus
fertigmachte und wohl in den Tod trieb.
Für die
Eichmann-Assoziation und die anderen gewaltandrohenden
Phantasiebilder gibt es für mich nur die eine plausible
Erklärung: Ich habe mich auf meinem alten Fahrradweg
endlich meinem Gymnasium genähert, der Stätte so vieler
Enttäuschungen, Demütigungen und
(auch selbstverschuldeter) Leiden. Jetzt
müßte ich nur noch in das letzte, kaum 100 Meter lange
Wegstück am Saum des Parks einfahren, in den
schmalen dunklen, von Baumkronen überdachten
Aschenweg, der direkt auf das Gymnasium zuführt.
Ich
photographierte diesen Zugang schon Mitte der 80er Jahre und
notierte dazu, daß diese Wegstrecke in meiner
Erinnerung für den Zeitraum der Sexta und
Quinta stehe; und daß mir merkwürdigerweise bei diesem Anblick
gar nicht beklommen zumute sei, obwohl es
doch ein „Phantombild der Angst” sei. Immer noch ist
dieser Anblick des Photos von keinem Gefühl begleitet.
Dabei steht er für mich weiterhin für Angst
schlechthin, als enger dunkler Korridor, durch den hindurch
ich mich ins Unvermeidliche zu begeben
habe. Empfindungen hat man freilich bei einem solchen
tagtäglichen Eintritt besser keine mehr.
Zu
meiner Überraschung fällt mir erst jetzt ein, daß sich ja um
diesen Zugang zum Park und Gymnasium längst schon
Todesbilder angelagert haben, die
dem Deutschunterricht des dort wohnenden Dr. L. entstammen (vgl. S.
8): die Gräber des so kinderfreundlichen
Herrn von Ribbeck und des Westgotenkönigs Alarich (als Pfadfinder
war ich ein „Ostgote”), die Opferfahrt des
John Maynard sowie die Morde an dem Heideknaben und dem
Dichter Ibykus. Diese Phantasiebilder, die
meine Opferrolle bezeichneten und daraus einen
eigenen Totenkult machten, waren zweifellos die seelisch
früheren und von einer solch magischen Gewalt,
daß sie jene aggressiven Erwachsenenphantasien, die offenbar mit
gewissen Lehrern abzurechnen suchten,
in ihren Bann ziehen und in ihrer unmittelbaren
Nähe ansiedeln konnten.
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