Quelle: http://bi.schraven-net.de/su/fvs60/FVS60J-f0007.htm
Gymnasiale Mittel- und Oberstufe („ ... spielt gerne Opposition”)
Die
einst bedrohliche Überlegenheit der Lehrer, die einen mit ihren
unerklärlichen und unerschöpflichen Wissensvorräten
vollzustopfen suchten, ist schon zu Beginn der
Mittelstufe weithin gebrochen. Rasch machen wir einander
auf die Schwächen und Absonderlichkeiten der neuen
Pauker aufmerksam; außerdem beherrsche ich nun gewisse
Schummeltechniken, mit denen ich mich ohne größere
Anstrengungen über Wasser halten kann. Als ich im Frühjahr
1958 (mit 13 Jahren) wegen „mangelhafter” Noten in
Latein und Mathematik die Quarta wiederholen muß, komme ich
zusammen mit einem halben Dutzend Leidensgenossen in die
Klasse von „Piefke”, der uns in Mathematik
und eine Zeitlang auch in Physik unterrichtet.
Ungefähr
40 Jahre alt, klein, sorgfältig gescheitelt, tritt er mir mit Brille
und Strickweste als eine der Gestalten vor Augen, die mir von den
Witzseiten der Revuen her als Schalter- oder Finanzbeamte
geläufig sind. Trotz jener Kameraden empfinde
ich mich in seiner Klasse noch lange Zeit als Fremdling; in Anrede,
Lob und Tadel unterscheidet er merklich zwischen
uns Neuankömmlingen und den Seinen, was mir
besonders an seiner täglichen Übung aufgeht, zu
Beginn des Unterrichts, als wäre es eine Morgenandacht,
die Klasse mit dem Großen Einmaleins kopfrechnen zu
lassen. Wo unsereins noch wirklich zu rechnen hat, kommen
bei ihnen, zu „Piefkes” Behagen, die Ergebnisse
nur so herausgeschossen. Um so überraschender,
als er sich eines Tages so gar nicht als der mathematische
Pedant, für den ich ihn halte, verhält und mich sehr
dafür lobt, daß ich bei einer umstrittenen Sache
auf meiner Ansicht beharrt habe. Worum mag es gegangen
sein? Vermutlich um meine Weigerung, weiterhin am
Schulgottesdienst teilzunehmen.
Danach scheine
ich mich auch für Mathematik und Physik ein wenig erwärmt zu
haben, verbessere mich jedenfalls bis zum Ende der Untertertia
(Frühjahr 1960) von Jahr zu Jahr in den Zeugnisnoten.
Monate vor dem
Abitur spricht „Piefke” mich auf dem Schulhof an und fragt wie
erstaunt: „So weit bist du schon?” Und erkundigt sich
nach meinen Studienplänen. Wochen später begleitet er uns – laut
Tagebuch am 16.10.64 – auf einem Werksbesuch
bei der Oberhausener HOAG. Als ich nach dem
abschließenden Mittagessen meinen Mantel nehme,
erhebt er sich vom Tisch und schüttelt mir mit feierlichen
Worten, wunderlich bewegt, die Hand.
Ich
habe jetzt den Eindruck gewonnen, daß er sich während jener
letzten Wochen seine Gedanken über den Zusammenhang
zwischen meinem Studienziel Philosophie und meinem frühen
religionskritischen Bekenntnis gemacht
hatte.