Quellen: www.alfred-ulrich-lindemann.de ("Kalender" Jan. 1997) ‘Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums’ (Oberhausen 2005, S. 48)
In
DEUTSCH unterrichtet
uns wohl bis einschließlich Quinta Herr Dr. L., ein kleiner alter
Mann, der gelegentlich einen Tobsuchtsanfall
bekommt und so seinen Spitznamen „Giftzwerg” immer
noch verdient. Er wird dabei aber niemals handgreiflich
und ist ansonsten sanft und mitunter gar liebenswürdig.
Eine Zeitlang komme ich täglich mit dem Fahrrad an dem
Eckhaus vorbei, das er schräg gegenüber dem
Polizeipräsidium bewohnt.
Mit seiner Person fest verbunden sind für mich
Gedichte und Balladen von Fontane (‚Herr von
Ribbeck auf Ribbeck’, ‚John Maynard’) sowie
Schillers ‚Die Kraniche des Ibykus’. Und ist
es nicht Dr. L., der die Handlung eines von uns auswendig
zu lernenden Gedichts als entsetzlich
bezeichnet? Es ist Hebbels ‚Der Heideknabe’,
dessen Atmosphäre sich assoziativ, über
den Anblick der blutroten Sonne, um mein Elternhaus
gelagert hat.
Es
fällt mir erst jetzt auf, daß auch jene anderen mir aus seinem
Unterricht noch erinnerlichen Balladen
um Tod oder Todesbedrohung kreisen.
Und
ein weiteres Gedicht fällt mir dabei wieder ein, das wir schon bei
Dr. L. gelernt haben dürften und das mit dieser Fontaneschen
Thematik von Tod und Auferstehung des Menschen verwandt ist,
Platens ‚Grab im Busento’ nämlich, dessen
Verse von den nächtlich widergängerischen
„Schatten tapferer Goten,/ Die den Alarich
beweinen, ihres Volkes besten Toten”, mir von Zeit
zu Zeit wieder in den Sinn kommen. Wobei ich nun auch an eine
Bemerkung von Herrn L. denken muß, die er vor
der Beerdigung eines Schülers macht, der ein
oder zwei Klassen über uns war und tödlich verunglückte:
Wie
traurig muß es doch sein, so jung, ohne die Welt näher
kennengelernt zu haben, zu sterben. Seine Begründung
will mir nicht einleuchten, denn ich, der ich noch viel jünger bin,
kenne die Welt eigentlich schon ganz gut.
Aus
seinem Unterricht ist mir nur noch die eine Situation erinnerlich,
als er den Charme einer jungen deutschen
Eiskunstläuferin preist, was mich verwundert,
weil unsere Studienräte über Sportler und
Zeitereignisse nicht zu sprechen pflegen.
Es dürfte dies
Gundi Busch gewesen sein, die Weltmeisterin von 1954, die noch im
selben Jahr zur „Hollywood Ice Revue” ging.
Diese Erinnerung
scheint nun gar nicht zu der chthonischen Aura von Dr. L. zu passen.
Doch bemerke ich, daß in meiner Erinnerung
das undeutliche Bild dieser Eiskunstläuferin ebenso wie
Schillers und Fontanes Balladen seit eh und je
bei einem niedrigen Häuserblock gegenüber dem
Polizeipräsidium
angesiedelt
sind, die Balladen rechts, das freundliche Phantasiebild
der Eisläuferin links außen. Noch weiter links
aber, auf der anderen Straßenseite schräg gegenüber Block und
Präsidium, stand das Eckhaus von Herrn L.! Wie
intensiv muß ich doch damals und wohl noch Jahre später an ihn
gedacht haben, das heißt in Verknüpfung mit diesen
seinen Themen, da ich mit ihm selbst keine unangenehmen
persönlichen Erfahrungen verbinde.
Wie
ich erst später erkannte, bei der Beschreibung meines
Schulweges, hat jene Lokalisierung gegenüber dem
Polizeipräsidium
eine entscheidende
zusätzliche Determinante: Unmittelbar
rechts von diesem Häuserblock, angrenzend an den
Ort meiner balladesken Todesphantasien, lag der Eingang
zu dem für mich so beklemmenden dunklen Hohlweg, der
schnurstracks aufs Gymnasium zuführte
(s. Photo S. 25).
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