– Ich
fühle mich durch ihn nicht bedroht, bleibe aufmerksam und werde als
einer der besseren Schüler von ihm in Ruhe gelassen.
Überraschen kann er mich nur das eine Mal, als er unsere
Schultornister ausräumen läßt. Doch scheine ich nichts
Verbotenes mit mir geführt zu haben.
– In
„Heimatkunde” zeichnen wir auf durchgepausten <oder
hektographierten?> Deutschlandkarten die
Flüsse, Städte und Gebirge mit blauen, roten und braunen
Stiften ein und schreiben ihre Namen hinzu.
– Der
Rektor bringt uns viele Volkslieder bei, darunter: „Die Luft ist
blau, das Tal ist grün”; „Zwischen Berg und tiefem, tiefem
Tal”; „Hoch auf dem gelben Wagen”. So manches dieser
Lieder zieht mich aus dem Unterricht hinweg in seine eigene
Atmosphäre. Dagegen müssen wir bei
Kanons wie „Froh zu sein bedarf es wenig” und „Abendstille
überall” ständig aufpassen, daß wir unsere
Einsätze genau hinbekommen. Singen wir nicht eine
Zeitlang zu Beginn des Unterrichts „Jeden
Morgen geht die Sonne auf”?
- Nur
ausnahmsweise wie bei dem Goethelied „Ich ging im Walde so für
mich hin” merkt er einmal etwas zum Text an. Und redet
eindrücklich über das Lied von den Leinewebern, die
man nicht verachten darf. Ich nehme es mir zu Herzen und denke
dabei auch an die Klassenkameraden, die
ich nach meinem Übergang auf die höhere Schule bald zurücklassen
werde. Das mir sehr zusagende Lied „Die
Gedanken sind frei” beziehe ich auf der Stelle auf diesen
tyrannischen Rektor, frage mich aber gleich danach, ob
nicht auch er sich dies hätte denken können.
– Als
ich im Herbst 1953 von einem mehrwöchigen Erholungsurlaub von
Wyk auf Föhr zurück in den Unterricht komme, haben meine
Klassenkameraden inzwischen das „Kleine
Einmaleins” erlernt und führen nun dem Rektor ihre neuen
Künste vor. Ich kann nicht folgen und fühle mich
übergangen, ja hintergangen. Dann aber, am nächsten Sonntag,
hole ich alles nach, und zwar perfekt und in einem
mir unbekannten Hochgefühl.
Meine erste
größere Aufholjagd in rauschhaft vorangetriebener Arbeit. Ähnlich
konzentriert und euphorisch werde ich mir erst wieder
mit 17, 18 Jahren etwas aneignen, als ich mich nach all den
verbummelten Gymnasialjahren auf die Texte der Philosophie
stürze.
– Eine
neuangekommene(?) Schülerin mit weißblondem Haar wird vom Rektor
aufgefordert, ein Lied aus ihrer Heimat
vorzusingen. Sie hat sich wenige Schritte vor uns
hingestellt und singt nun mit schöner fester Stimme:
„Diesen Weg, diesen Weg bin ich oft gegangen,
Vöglein sangen Lieder. Nur nach dir, nur nach dir, hab ich ein
Verlangen, Thüringer Wald, nur nach
dir! ...”
– Der
Rektor will wissen, was das Wort „unsympathisch” bedeutet. Ein
Mädchen meldet sich und sagt, daß man einen solchen
Menschen nicht leiden kann.
Warum habe
ich nur diese Frage behalten? Ich bin mir sicher, daß ich damals
nicht an den Fragesteller dachte, sondern nur leise
für mich an der richtigen Antwort formulierte. Im
Lauf der Zeit muß ich ihn demnach insgeheim mit diesem Wort
identifiziert haben.
– Voll
Lob spricht er über den „Weltspartag” und den „Muttertag”.
Zum „Reformationstag” werden wir
zusammen mit anderen Klassen die fast schnurgerade
Straße hinunter zum Kino geführt, wo wir
uns einen Schwarz-Weiß-Film über Martin Luther ansehen.