Lektüre in der Prima
entwicklung
oder Figurenpsychologie. Und hinterläßt
mir die Empfindung, daß wir trotz eindringlicher
Interpretation die Sache längst noch nicht erschöpft
haben. Eine Offenheit und ein methodischer Zartsinn,
die so gar nicht zu seiner persönlichen Ausstrahlung
passen und noch weniger zu seiner dogmatischen, ja
propagandistischen Begünstigung solcher Themen und Stoffe,
die seiner katholischen Konfession oder doch der christlichen
Ideologie nahe bleiben. So behandelt er mit uns T.S.
Eliots im 12. Jahrhundert spielendes
Märtyrerdrama ‚Murder in the cathedral’, B. Shaws
Tragödie ‚Saint Joan’ (15. Jh.), N. Hawthornes
Passionsgeschichte ‚The Scarlet
Letter’ (im puritanischen Neuengland des
17. Jh.) sowie, im anbrechenden 20. Jahrhundert
angesiedelt, einige Erzählungen aus J.
Joyces ‚Dubliners’ und Th. Wilders Bühnenstück ‚Our
town’, in dem die Toten das Leben allmählich zu
vergessen und sich auf ihr weiteres Schicksal
einzustellen haben. Dr. B., der einer
katholischen Verbindung <dem ‚Neuen Deutschland’>
angehört, erlaubt sich auch die Bemerkung, daß es ohne
das Auseinanderbrechen der mittelalterlichen
katholischen Ordnung nie hätte zu
Hexenprozessen kommen können.
So
bin ich hin und her gerissen zwischen seinem autoritären
Stil, der es ihm eine Zeitlang auch gestattet, als
Beratungslehrer unsere Schülerzeitung zu
‚redigieren’, und seiner Meisterschaft, uns in die
andeutungsreiche, indirekte und verhüllende Sprache
der Literatur einzuführen.
Literarisches Niveau hat für mich zudem die Diskretion,
mit der er die eigene Person umgibt. Einmal legt er uns
eine Photographie des Nobelpreisträgers <von 1962> John
Steinbeck vor und fragt schließlich, ob es nicht sein könne,
daß auf dem so ernsten Gesicht ein kleines Lächeln liege.
Seitdem oder doch schon seit Jahrzehnten finde ich in
Steinbecks Physiognomie immer auch die
von Dr. B. wieder; scheine ich doch seine Frage als
verkappte Selbstindizierung aufgefaßt zu haben,
als Andeutung eines uns verborgenen Potentials an Wohlwollen und
Freundlichkeit. Ähnlich sein understatement,
als er etliche Zeit nach der Amputation seines kleinen(?)
Fingers – er trug plötzlich eine schwarze Fingerkappe
– bemerkt, niemandem zu wünschen, gewisse physische
Schmerzen ohne Betäubung aushalten zu müssen; oder
als er die Schwierigkeiten erwähnt, die den erwarten, der sich
einmal ernstlich auf die Übersetzung eines Textes
einlasse. Beides beziehe ich intuitiv
sofort auf ihn.
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