Quellen: ‘Festschrift zum 100-jährigen Jubiläum des Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums’ (Oberhausen 2005, S. 48)
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„KUNST”
Von
der Sexta bis zur Oberprima ist „Otto” unser Kunsterzieher.
Gleichwohl ist mir die Physiognomie dieses für mich
ungefähr 50jährigen Mannes nicht mehr deutlich; er scheint
eine „Künstlermähne” zu tragen und entsprechend
gekleidet zu sein. „Otto” hat sich in dem Nebenraum am
Ende des Zeichensaals eingerichtet, in dem es wohl
eine Chaiselongue und ein Waschbecken gibt und aus dem er öfter mit
wirrem Haar heraustritt. Einigemale
habe ich dort mit Mitschülern zu tun, um Requisiten
für den Unterricht oder für die musikalische
Aufführung des von ihm gemalten „Struwwelpeter”<!>
herbeizuschaffen.
In den
ersten Jahren gibt er mir immer „ausreichend”, in den letzten
immer „gut”. Doch kann ich seine Noten bald nicht mehr ernst
nehmen, bin ich doch in der Sexta und Quinta wiederholt darüber
enttäuscht, daß er gewisse Aquarelle nicht
deutlich besser bewertet als andere von mir, so – mitsamt
seiner Benotung noch erhalten – Mümmelmanns
Haus, eine sortenreiche Ansammlung von Pilzen oder von
Blumen auf einer Wiese, Vögel in winterlicher
Umgebung, ein Bauerngehöft oder die brennende Kerze auf
einem Tannenzweig. Ihm scheint nicht einmal
aufzufallen, daß ich für einige Zeichnungen bestimmte
Motive mit schwierigen Perspektiven
aus einem Übungsbuch übernommen habe.
„Otto”
geht von Schüler zu Schüler und merkt bei mir kritisch an, daß
ich noch stärker mit Deckweiß arbeiten müßte und
eintönige Wiesenflächen durch Farbmischung
beleben könnte. Ein andermal läßt er uns aus Balsaholz
das Trojanische Pferd nachbauen.
Von der
Mittelstufe an zeigte er uns Kunstphotos etwa von Rembrandt und Macke
vor und ließ sie uns auch kopieren. Fahrig und ohne
Systematik wiederholte er seine Mahnungen
und kunsttheoretischen Erläuterungen, in deren
Mittelpunkt der ‚Goldene Schnitt’ stand.
Seine
pauschalen Verunglimpfungen der Gegenwartskunst
zeigten mir dann, daß er längst nicht mehr auf dem laufenden
war, auch wenn er sich gelegentlich bis zur ”Brücke”
und zum „Blauen Reiter” hin vorwagte. Seine Ausführungen
pflegten wir zuletzt spöttisch zu kommentieren,
ließen ihn jedoch meist in Frieden und unterhielten
uns bei der Arbeit zu zweit oder dritt über andere Dinge.
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