Wer kommt aufs Gymnasium?
Eines
Morgens möchte unser Rektor von uns wissen, wer zu der
Aufnahmeprüfung für eine höhere Schule angemeldet
werden soll. Nie zuvor sprachen wir darüber, nicht im Unterricht und
auch nicht zu Hause. Als ich meiner Mutter davon berichte,
fragt sie aufgeregt, ob ich etwa gesagt hätte, nicht daran
teilnehmen zu wollen? Ich kann dies verneinen; und
freue mich, als ich höre, daß auch ich diese Prüfung ablegen
soll.
In
den folgenden Tagen aber muß ich verwirrt und betrübt zur
Kenntnis nehmen, daß einige Mitschüler, die ich
für sehr intelligent halte, von ihren Eltern weder für ein
Gymnasium noch für eine Mittelschule angemeldet
werden sollen. Besonders bedauernswert finde ich Greta,
die ich gut leiden mag, und sehe noch, wie sie so stumm dasitzt,
als wir anderen aufgerufen oder schon über die nächsten
Schritte informiert werden. Ich begreife
dies einfach nicht!
So manchesmal
kam mir diese Auswahlszene schon in meiner Jugend als
Schlüsselerlebnis für soziale Ungerechtigkeit
in den Sinn. Dies wollte ich ebensowenig vergessen wie die
weniger krasse, dafür hinterhältigere Selektion,
die ich dann auf dem Gymnasium kennenlernte, indem einige
besonders interessante und geistvolle Mitschüler
zugunsten der lernwilligen, das heißt im Elternhaus
nachdrücklich geförderten, aus dem Felde
geschlagen wurden.
Von
uns 42 Viertkläßlern der evangelischen Schule kamen 1955 zehn
auf die höhere Schule, was deutlich über der damals üblichen
Jahrgangsquote (rund 15 Prozent) lag und sich durch den Standort
des dortigen Chemiewerks erklärt. Sechs oder sieben
von denen, die auf ein Lyzeum oder Gymnasium wechselten,
waren Kinder von (leitenden) Angestellten dieser
„Ruhrchemie”; die Väter der anderen waren
Pfarrer, Lehrer und Lebensmittelhändler.
Weitere vier oder fünf Schüler gingen zur Mittelschule
ab, unter denen zwei wohl Handwerker zum Vater
hatten.
Auf
dem Gymnasium wurden wir Jungen strikt nach dem Alphabet auf die
beiden Sexten verteilt, so daß nur noch einer aus meiner alten
Grundschule mit mir weiter in dieselbe Klasse
ging.
„Aufnahmeprüfung” für das Gymnasium
(laut Eintrag ins Zeugnisheft am 1.2.55)
Zusammen
mit meinem Klassenkameraden Detlef werde ich von dessen Eltern
im Auto zum Sterkrader Gymnasium gebracht. Im
Erdgeschoß des riesigen, lang- und hochflurigen Gebäudes
sitze ich nun mit anderen Jungen in einem
Klassenzimmer, den Rücken zur Tafel, und habe wohl einen
Aufsatz zu Papier zu bringen. Mir gegenüber
sitzt hinten links ein Lehrer, der in seine Zeitungslektüre
vertieft ist.
Ich
weiß nicht mehr, wann uns die Ergebnisse der schriftlichen
Prüfung mitgeteilt werden. Hinterher habe ich ein
gutes Gefühl. Auch loben mich die Eltern meines Mitschülers
noch im Schulflur dafür, wie ich mich gehalten hätte.
Irgendwann
nach oder schon vor der Prüfung berichtet mir Mutter, daß
sie mich angemeldet und der neue Direktor zu meinem
Schulzeugnis bemerkt habe: „Wenn nur alle ein so gutes Zeugnis
hätten ...” Das alles klingt sehr beruhigend.
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