Zu
jedem meiner Mitschüler konnte ich noch etwas in Erinnerung
rufen, auch wenn in der Regel nur wenige Zeilen
zusammenkamen. Bald aber ging mir auf, daß viele
Eindrücke stark durch das abgebildete Viertklaßphoto aus
dem Frühjahr 1955 geprägt waren, das ich seit
Jahrzehnten schon öfter betrachtet, ja geradezu
studiert hatte. Wie suggestiv Mimik und
Körperhaltung auch einer bloßen Momentaufnahme
sein können und wie sie sich in uns fortentwickeln,
zeigte sich vor allem für Ulrich, von dem ich mich damals
bei unserem Rektor denunziert fühlte. Aus der vermeintlich
freien Erinnerung sprach ich von dem „finsteren
Verräter” und schrieb unter anderem: „Er trägt eine
dunkle Kordjacke mit Reißverschluß und läßt
sein dunkles Haar tief ins Gesicht fallen ... Seine
(wasser-?)hellen Augen mag ich gar nicht, sie
scheinen auch meinem Blick auszuweichen.” Genau so
meidet er auf dem Photo den Blick in die Kamera.
Und sicherlich wurde seine finstere Aura
durch seine Position auf dem Photo verstärkt, wo er
gleichsam als tückischer Hagen von Tronje
schräg hinter mir steht, der ich zudem wie im Schlaf die Augen
geschlossen halte. Bei der schriftlichen
Erinnerung an meine Klassenkameraden räumte ich ihm
dann unwillkürlich den letzten Platz ein, das
heißt die letzte Stelle unter den von mir zuerst
charakterisierten Jungen, eine Stelle,
die so zugleich zu einer Übergangsposition
hin zu den Mädchen wurde, von denen er mich durch
jene Bloßstellung weiterhin zu isolieren drohte.